Geschichten von der Strasse

Ostern 2017

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Whoop, whoop! Die Tulpen blühen und die Pollen fliegen. Ostern steht vor der Tür! Und damit natürlich das Oster-Tramprennen. Und auch dieses Jahr haben wir einen ganz besonderen Zielort für euch gefunden. Nicht genug, dass dort, wo wir hinfahren die älteste Hallenkirche östlich der Elbe und das erste Hybridkraftwerk Deutschlands stehen. Nein, der diesjährige Zielort ist auch eine Hochburg des professionellen Tischtennissports. Sowohl die Tischtennisnationalspielerin Laura Matzke, wie auch die Tischtennislegende Eberhard Sielmann sind Kinder dieser Stadt. Also: Packt nicht nur den Edding und den Atlas ein, sondern auch eure Pingpong-Schläger, den wir fahren nach Prenzlau in der Uckermark.
Dort hat der Campingplatz Solaris bereits die Rasenfläche für unsere Zelte reserviert und den Pingpong-Tisch poliert. Aber auch alle, die sich nicht zu den Freunden des Minitennis zählen, werden auf dem Camping Solaris auf ihre Kosten kommen, denn die Uckermark hat so einiges zu bieten. Die umliegende Natur will per Fahrrad oder Kanu entdeckt werden. Mieten kannst du das Gefährt deiner Wahl gerade auf dem Campingplatz. Für den kulturinteressierten Typ lohnt sich ein Spaziergang durch die Altstadt Prenzlaus, dessen Wurzeln bis ins 7. Jahrhundert zurückführen. Ausklingen lässt sich ein Frühlingstag in Prenzlau am besten in der Gaststätte zur Fischerstrasse, die von den Einheimischen jedoch nur Kalliwalde genannt wird. Dort genießt man sein kühles Blondes nämlich mit direktem Blick über den Uckersee.

Doch einfach nur direkt in dieses kleine Paradies zu trampen, wäre uns zu einfach: Prenzlau muss man sich verdienen ????. Darum gibt es auch dieses Jahr eine kleine, zweitägige Challenge namens «Stadt, Land, Lift».

 

Hier kommen die Regeln:

Spielstart: Freitag, 14. April, 8 Uhr, Ort: frei wählbar

Spielschluss: Samstag, 15. April, 20 Uhr, Ort: Prenzlau, Campingplatz Solaris

 

Damit du mitspielen kannst musst du dir unsere, in Gedenken an Peter Pony designte, Stadt-Land-Lift-Tabelle ausdrucken. In der Spalte ganz links schreibst du den Buchstaben rein, der gejagt werden soll. Gesucht werden folgende Kategorien:

-Stadt/Dorf

-Kneipe

-Fluss/Gewässer

-Kennzeichen (bitte nicht das ganze Kennzeichen ins Netz stellen)

-Automarke

-Liftvor- oder Nachname (bitte nicht den ganzen Ausweis ins Netz stellen)

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Für jedes erfüllte Feld gibt es einen Punkt. Für eine vollständig gefüllte Zeile winken dir gar 10 Punkte. Es lohnt sich also für einen Buchstaben alle Kategorien vollzukriegen. Falls du für eine der sechs Kategorie sogar das ganze Alphabet zusammenkriegst, wirst du mit 100 Punkten belohnt. Aber das schafft ja eh niemand… Natürlich wollen wir Beweise, sprich Fotos mit den Kneipen-, Orts- oder Autoschilder oder euren Standort am jeweiligen Fluss oder im Dorf. Hierfür könnt ihr die Club of Roam-Facebook-Seite nutzen. Zusätzlich haben wir aber auch ein Ostertramp-Event auf unserer Homepage geschaffen. Wer will kann hier ganz einfach ein Oster-Team erstellen (Mindestens 2 Personen und maximal 4) und damit den allseits bekannten und beliebten Liveticker für die Beweisführung verwendenden. Yeahhhhaa!

Team anmelden

Livetickern und lesen

Mal schauen, wer mit den meisten Punkten am Samstag im Camp Solaris einfährt. Feiern, Pingpong spielen, und die uckermärkische Natur unsicher machen, können wir bis am Montag. Solange haben wir die Plätze auf der Campingwiese reserviert. Natürlich zu einem Spezialtarif. Bezahlen tut dann jeder einzelne gleich vor Ort. Der Preis liegt bei ca. 5 Euro pro Person und Nacht.

Und noch zwei wichtige Punkte zum Abschluss. Wenn ihr kein Team erstellt gebt uns doch bitte Bescheid, ob du mit dabei bist, damit wir das Solaris vorwarnen können. Und zweitens: Gib acht, dass du nicht im falschen Prenzlau landest, denn dort gibt es kein Hybridkraftwerk.

 

Tramprennen 2017

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TR-Adventskalender #26

Heute präsentieren wir euch die letzte Geschichte unseres Adventskalenders. Ein großes Dankeschön an alle, die mit ihren Geschichten dazu beigetragen haben und ein besonderer Dank an Hannes, Simona, Franzi und Felix für die Übersetzungen und an Gero für die Bilder!

Wie üblich, das Beste zum Schluss:

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#26: Tim

Strecke: Westberlin – Münster (Westfalen) Datum: Spätsommer 1989

Wendezeit 1989. Am Ende eines einwöchigen Aufenthalts in Westberlin hatten meine damalige Freundin Heidrun und ich in Kreuzberg noch einmal die Nacht zum Tag gemacht. Als wir aus einem komatösen Schlaf erwachten, stellte ich mit Entsetzen fest, dass es bereits halb eins war und unsere Mitfahrgelegenheit vom Wittenbergplatz vor mehr als einer Stunde nach Münster in Westfalen abgefahren sein musste.

Handys gab es nicht. In der WG meines Kumpels Sven lag kein Telefonanschluss. Zu allem Überfluss war in der Nacht zuvor in unserer Abwesenheit jemand in die Wohnung eingedrungen und hatte meine Kamera und das zurückgelassene Bargeld gestohlen. Als die Kripo eintraf, lachten die Beamten angesichts des Kastenschlosses am Eingang: „Dit mach ick dir inne Sekunde uff.“

Mir waren 20 Mark geblieben. Eine Zugfahrt nach Westfalen war davon nicht zu bezahlen. Am Abend wurde ich in Münster zu einem Gig mit meiner Band „The Subway Surfers“ erwartet.

Also rein in die S-Bahn und raus zum Wannsee. Von dort war es nicht weit bis zur Trampstelle am Rasthof Dreilinden. Als wir in der Bahn saßen, stellten wir fest, dass es ein sonniger Septembertag war. Inzwischen war es kurz vor drei. In gut sechs Stunden musste ich in Münster auf der Bühne stehen. 475 Kilometer. Mir war bewusst, dass wir nur eine Chance haben würden, rechtzeitig dort zu sein, wenn wir einen direkten Lift bekommen würden. Als ich durch die Bäume von der Straße die rotbraune Fassade der Raststätte entdeckte, sah ich das Malheur: An der legendären Trampstelle gen Westen standen an diesem Freitagnachmittag mindestens 200 Leute, die den Daumen in den Wind hielten.

Ein Hippiepärchen hatte am Straßenrand bereits ein Deckchen ausgerollt und veranstaltete ein Picknick. Auf den Korb mit den Lebensmitteln hatten sie ein Pappschild mit den Buchstaben „BEL“ geklemmt. Zwei Mädchen mit Rastafari-Locken sprangen, als wir da unten ankamen, gerade zu einem Lastwagenfahrer auf den Bock. Die meisten Tramper wollten – so stand es zumindest auf ihren Schildern – nach Hannover, in die Universitätsstadt Göttingen und nach Hamburg.

Leute, die direkt nach Münster wollten, waren offenbar nicht darunter. Schüchtern pirschten wir uns an die Straße heran.

Die Stimmung unter den Trampern schien ausgelassen zu sein. Viele Autos, die aus der Stadt kamen, fuhren damals vor Passieren des Checkpoint Bravo noch einmal den Rastplatz an, um nach Mitfahrern Ausschau zu halten. An diesem Freitag war es nicht anders. Im Stop-and-Go-Tempo schlichen die Fahrzeuge vorbei, begutachteten die Schilder und winkten, wenn die Richtung stimmte, die Leute heran.

Meine Freundin und ich hatten kaum unseren Platz eingenommen, als vor uns ein Pärchen von einem Mercedes-Combi mitgenommen wurde. Kaum waren sie bei dem weißhaarigen Banker-Typen eingestiegen, trat dieser aufs Gas und brauste unter dem sarkastischen Applaus der eingenebelten Tramper davon. Hinter dem Benz rollte ein weinroter Passat Combi heran, Baujahr: späte Siebziger. Ich traute meinen Augen kaum, Münsteraner Kennzeichen. Hektisch zerrte ich meine Freundin nach vorne, die ihm das Schild mit den Buchstaben „MS“ vor die Windschutzscheibe hielt. Der schwarzhaarige Typ im Wagen deutete mit dem Finger auf uns: „Ihr wollt nach Münster, na dann, mal rein.“

Als ich auf dem Beifahrersitz Platz genommen hatte, riss hinter mir eine Frau – Typ Sozialkundelehrerin – die Tür auf. „Ey, ihr Schweine, ich steh‘ hier schon seit drei Stunden. Und ihr kommt hier angeschissen und steigt einfach ein.“

Der Fahrer blieb ganz ruhig:

„Mädchen, wo willste denn hin?“

„Hannover-Allertal.“

„Na, dann steig ein, da ist doch noch ‘ne Gallone Platz.“

Während ich noch überlegte, wie sich die Maßeinheit Gallone eigentlich in Kubikmetern ausdrücken lässt, fuhren wir ab. Es war halb vier. Wenn wir so durchkommen sollten, wären wir gegen neun in Münster und das Konzert konnte rechtzeitig beginnen.

Als wir den Rastplatz verließen, las ich das Graffiti an der Brücke, wo damals in riesigen weißen Lettern stand:

„You are leaving the american sector.“

Kurz dahinter begrüßte uns ein russischer Weltkriegspanzer, links der Autobahn auf eine Säule montiert war, an der Zonengrenze.

Am Freitagnachmittag herrschte wie immer reger Verkehr. Schon 300 Meter bevor wir unsere Reisepässe abgeben mussten, stiegen wir aus dem Wagen, der Fahrer löste die Handbremse und wir schoben das Auto im Schritttempo an die Zollkontrolle heran.

Jetzt bloß keine Mätzchen, damit uns die DDR-Behörden in Ruhe passieren ließen.

Als der Grenzer die Pässe einsammelte, winkte uns sein Kollege aus der Reihe. Alle Zöllner schienen sächsisch zu sprechen. Warum bekam man es hier eigentlich nie mit Personal aus Berlin oder Brandenburg zu tun? Mit Lanzen, an deren unterem Ende Spiegel befestigt waren, schauten sie unter das Auto. Nach Begutachtung des vollgepackten Kofferraums durften wir weiterfahren, nahmen etwa zweihundert Meter weiter unsere Pässe entgegen und erreichten die Transitstrecke.

Unser Fahrer bretterte den Großteil der Strecke mit 190 Sachen über die löchrige Straße. Zwischendurch bremste er unvermittelt ab, drosselte auf die vorgeschriebene Höchstgeschwindigkeit von 100 km/h und begann zu winken. Offenbar fuhr er die Strecke öfter und kannte die Stellen, an denen die DDR-Polizei ihre Radarkontrollen aufbaute. Und tatsächlich standen oft auf kleinen Anhöhen hinter einer Böschung schmucke Wartburgs aus denen zwei Herren mit tief ins Gesicht gezogenen Uniformmützen den vorbeirauschenden Verkehr beobachteten.

Aus dem Cassettenteil des Autoradioradios knödelte Bob Dylans LP-Klassiker „Highway 61 Revisted“. Als zum dritten Mal „Like a rolling stone“ begonnen hatte, blickte ich auf die Rückbank des Passats, wo meine Freundin den Schlafmangel von letzter Nacht aufholte und Schulter an Schulter mit der schlechtgelaunten Allertal-Tussi vor sich hindämmerte. Die tiefstehende Sonne zeigte an, wohin wir fuhren. Ich tat es unserem Fahrer gleich, klappte die Sonnenblende nach unten und dachte daran, dass Glück kein Gefühl ist, dass man in sein Herz sperren kann, um es dort je nach Bedarf wieder hinauszulassen.

Glück muss man empfinden, wenn es passiert.

Und ich in diesem Moment war ich glücklich. Denn ich fühlte mich jung – was in meinem Leben nur sehr selten vorkommt – wahrscheinlich, weil ich es damals war. Und ich fühlte mich leicht, denn wir rollten dahin, vier Menschen vereint vom Zufall, auf einer Reise mit unterschiedlichen Zielen. Menschen, die sich danach nie mehr im Leben gemeinsam reisen würden, unterwegs durch ein unfreies Land im rasanten Tempo der Freiheit.

Ich machte es mir im schmuddeligen Sitz des weinroten Passats gemütlich. Am Abend würde ich Rock’n’Roll spielen mit meinen Freunden. Und später würde ich meine Freundin küssen, die zwar Heidrun hieß, in meinen Augen aber so schön war, als hieße sie Sophie oder Angelina oder so. Der Passat schnurrte. Dylan knödelte. In Allertal tauchte die Sonne unsere Verabschiedung von der Sozialkundelehrerin in sanfte Bonbonfarben.

Als uns der Fahrer am Münsteraner Bahnhof absetzte, rief er: „Wir sehen uns…“ Heute sagt man das so, damals hörte ich es das erste Mal. Und mir wurde klar: Auf der Straße sieht man sich wohl immer irgendwie, irgendwo, irgendwann mal wieder. Von dem guten Gefühl, unterwegs zu sein, kommt ein Mensch nur schwer wieder los, wenn es ihn einmal gepackt hat. Ich bin jetzt 47. Ich trampe nur noch sehr selten. Aber ich spiele immer noch Rock’n’Roll mit meinen Freunden und küsse gern meine Freundin. Und wenn ich in den Bandbus steige und die Tür hinter mir zugeht, die Musik aus der Anlage schallt und die Sonne über den vorbeiziehenden Bäumen im Westen untergeht, denke ich daran, wie viel Schwein wir damals in Dreilinden hatten.

Und ich frage mich, was unsere Mitfahrer von damals wohl machen?

TR-Adventskalender #23

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#23: Stefan

Scheiße. Die Sonne geht schon unter. Und keiner hält an. Wirklich niemand halt an dieser verfickten Stelle an. Auffahrt Leipzig Nord-Ost auf dem Weg nach Dresden. Ich stehe hier schon seit mehreren Stunden. Es ist kalt. Abgase umgeben mich. Ständig nervig, laute Autos, die an mir vorbeiziehen. Ich bin frustriert. Keiner liebt mich. Und das soll also trampen sein?

Ich beschließe nach Hause zu gehen. Hat doch keinen Sinn hier. Trampen, das funktioniert doch gar nicht! Und nun wieder den ganzen Weg zurück in die Stadt. Was für eine Blamage. Ich bleib hier noch kurz stehen, damit ich mich weiter ärgern kann. Und irgendwie hab ich auch gerade keinen Bock auf irgendwas. Was mach ich hier eigentlich? Hätte ich doch, mal eine Mitfahrgelegenheit…….zzzzziip. Hält das Auto da wirklich an? Ja, es hat angehalten. Renn los du Taugenichts! Es hat wirklich angehalten! Unglaublich….

Ein Studienkollege hatte mich zwei Wochen vorher motiviert, mich in dieses Abenteuer zu stürzen. „Trampen ist cool, mach das doch mal!“ Machte Sinn für mich. Er erzählte gerade, wie er von Hamburg nach Leipzig im Anzug getrampt ist und wie toll das funktioniert hätte. Auftreten und Haltung. So wichtig beim Trampen. Ich sollte das sehr bald verinnerlicht haben. Zehn Jahre ist das nun her. Vor zehn Jahren wäre ich fast wieder umgedreht und zurück nach Hause gegangen. Vor zehn Jahren hat sich etwas ereignet, was mein Leben komplett verändert hat. Diese Frau hat angehalten und mich mitgenommen.

Ich kann mich nicht mehr an ihren Namen erinnern. Es war ein kleines, älteres Auto. Farbe Rot, wahrscheinlich ein Renault. Sie hatte angolanische Wurzeln, arbeitete als Friseuse und war auf dem Weg Richtung Pirna. An Dresden vorbei. Genau da, wo ich hin wollte. Direktlift in der Dämmerung. Was ein Glück. Falls du, meine liebe Fahrerin, das hier lesen solltest, sag ich nochmal Danke. Ich bin so froh, dass du angehalten hast und mir die Möglichkeit gegeben hast, diese Erfahrung zu machen. Die war rückblickend so wichtig für mich!

Die Fahrt war sehr nett. Wir unterhielten uns über dies uns das. Nicht das ich mich noch an irgendwelche Details erinnern konnte, aber an das Gefühl und das war gut. Ich freute mich wahrscheinlich wie Bolle, dass es wirklich funktioniert hat. Es hat geklappt, dieses Trampen. Wer hätte das gedacht. Ich musste nach Dresden rein. Die Autobahn lag aber am Stadtrand. Weit entfernt vom Zentrum. Natürlich hatte ich mir über solche Nebensächlichkeiten zu dieser Zeit noch keine Gedanken gemacht. Musste ich an diesem Tag auch nicht.

Meine Fahrerin machte einen großen Umweg für mich und fuhr den ganzen Weg in die Stadt rein. Ich wurde direkt am Hauptbahnhof herausgelassen. So nett! Und dann geschah etwas, was mir noch sehr oft in meinem Leben passieren sollte. Sie fragte mich, ob ich denn Geld für die Bahn hätte. Ich meinte, ohne groß darüber nachzudenken, dass ich kein Bargeld dabei hab, aber das ja kein Problem ist, weil ich Geld am Automaten abheben könnte. Wir erreichten den Bahnhof. Ich bedankte mich und war schon fast auf meinem Weg nach draußen. Auf einmal zog sie einen 10 Euro Schein aus ihrer Tasche. „Hier.“ „Oh nein, Danke, aber das ist nicht nötig. Ich kann mir doch Geld holen.“ „Na komm, meinem Sohn hätte ich es auch gegeben.“ Wer kann bei dieser Reaktion noch ablehnen? Ich war völligst gerührt, hab die zehn Euro eingesteckt und bin ausgestiegen.

Die 10 Euro waren nicht so wichtig. Es ist auch egal, ob Menschen mir Geld, Essen, Bustickets, Selfie-Sticks oder Umarmungen schenken. Es geht um was anderes: Andere freut es, wenn sie euch einen Gefallen tun können. Und ich möchte diese Freude anderen Menschen ermöglichen. Es ist ein Akt der Nächstenliebe zwischen Fremden. Und diese Verbindung begab sich, weil wir für kurze Zeit zusammen in die gleiche Richtung gefahren sind. Sie hat mich wie ihren Sohne behandelt. Das hat mich tief berührt. Das ist eigentlich das wunderbare am Trampen. Diese zufälligen Begegnungen mit anderen Menschen, mit denen man eine herzliche und unvoreingenommene Verbindung eingehen darf. Ich bin in den letzten 10 Jahren mit vielen Personen gefahren, die aus einem komplett unterschiedlichen Kontext gekommen sind und mit denen ich im normalen Leben wahrscheinlich nie geredet hätte. Und ich hab mich immer wieder überraschen und beeindrucken lassen. Weil jeder hat etwas interessantes an sich hat. Und weil jeder es Wert ist, geliebt zu werden. Mein erstes Trampen hat definitiv den Grundstein für diese Haltung gelegt.

Ich trampe nicht nur aus Spaß an der Freude. Trampen war jahrelang Lifestyle für mich. Bewegung hieß Trampen. Ich hatte jahrelang ein Auto und trotzdem: Trampen musste sein. Immer und überall hin. Es gab keine wirkliche Überlegung zu dieser Angewohnheit, ich hab es einfach gemacht. Und wenn ich nun zurückblicke, dann hat mir dieser Lifestyle einiges ermöglicht. Wir haben irgendwann die Deutsche Trampsport Gemeinschaft gegründet und erkunden Deutschland mit dem Daumen. Im Oktober 2014 bin ich schließlich zu meiner Weltumtrampung aufgebrochen. 22 Monate, 58 Länder und 109.000 km später sitze ich wieder zu Hause. Keine Ahnung, wie das alles so eskalieren konnte. Aber es hat mein Leben so unglaublich bereichert. Und ich weiß, wann das angefangen hat: Als dieser wundervolle und herzliche Mensch an einem Sommertag 2006 an der Auffahrt Leipzig Nord-Ost in der Dämmerung angehalten hat, um einen Fremden mitzunehmen. Sharing is caring! Und kleine Gesten können im Leben der Anderen große Auswirkungen haben!

TR-Adventskalender #20

#20: Audrey

Das erste Mal, dass ich getrampt bin, war im Sommer 2011. Ich kam gerade als französische Austauschstudentin in Kiel an. Durch Couchsurfing habe ich ein paar wirklich coole deutsche Hippies kennengelernt, die bei Viva con Agua, einer deutschen NGO, aktiv waren. Die haben die ganze Zeit über eine Aktion geredet: Das Tramprennen. Ich hatte keine Vorstellung, worum es dabei ging und erst nachdem sie mir ein paar Videos von der Straße gezeigt hatten, habe ich verstanden, dass es sich um stolze Tramper handelte. Es war das allererste Mal, dass ich Menschen getroffen habe, die das Trampen als Sache an sich feierten und die es nicht nur aus der Notwendigkeit heraus betrieben. Das fand ich zunächst eher verstörend als cool.

Mein erstes Mal verlief dann so: Wir waren in der tschechischen Hauptstadt Prag und wollten zurück nach Kiel zur Kieler Woche. Mit meiner Freundin Camille wurde ich an einer Tankstelle außerhalb der Stadt abgesetzt. Es war noch früh am Morgen und wir hatten keine Ahnung, was wir da gerade machten. Aber wir hatten die leichte Hoffnung, dass wir es vor Einbruch der Dunkelheit nach Kiel schaffen könnten.

Wir waren zwei Frauen, besaßen keine Karte und zusammen nur ein Handy, also haben wir über ein paar Sicherheitsregeln nachgedacht. Eine davon war, dass wir, egal was passieren würde, zusammen bleiben, eine andere war, dass wir es uns sofort sagen würden, wenn wir uns unsicher fühlen.

Kaum hatten wir unser Schild ein paar Minuten hochgehalten, stoppte auch schon ein riesiger LKW. Der Fahrer, ein älterer Mann, sprach Deutsch und sagte: Hey Mädels, wir fahren nach Deutschland, ihr könnt mitkommen! Ein Mädel kommt mit mir, das andere kann mit dem Truck hinten mitfahren.“ In dem Moment sahen wir einen weiteren riesigen Truck, dessen Fahrer uns bereits eifrig winkte. Ich bedankte mich höflich und ergänzte: „Wir können leider nicht mitkommen, wir wollen zusammenbleiben.“

Zu spät! Camille rannte vor lauter Glück, dass so schnell jemand anhielt, mit ihrem Rucksack schon zu dem anderen LKW. Als ich also im LKW platznahm offenbarte mir der Fahrer direkt, wie gern er französische Mädchen hat, seit er eine Affäre mit einer Frau namens Nathalie hatte. Nach diesem unheimlichen Start erinnerte ich mich daran, wie sehr ich das Gefühl mag, von oben herab auf die Straße und die anderen Autos zu schauen. Ich mochte es auch, dass mich der LKW-Fahrer quasi in sein Wohnzimmer eingeladen hat, er bot mir Kaffee, Plätzchen und Zigaretten während der Fahrt an. Wir sprachen über seine Familie in Polen und hörten polnische Oldschool Popmusik. Ich schaute dennoch die ganze Zeit besorgt in den Spiegel und hatte Angst, dass Camilles LKW verschwinden könnte. Doch dem war nicht so, die beiden Trucks lieferten sich auf der Autobahn ein Rennen und überholten sich gegenseitig. An das Tempolimit verschwendete ich keinen Gedanken, ich war einfach froh, Camilles lachendes Gesicht jedes Mal zu sehen, wenn wir uns überholten.

Ein paar Stunden später hielten wir zusammen an und die beiden Fahrer teilten ihr Essen mit uns. Camilles Fahrer war super nett, aber auch er hatte seine ganze Fahrerkabine mit Postern nackter Frauen tapeziert. Sie hat alles im Griff, sagte Camille.

Sechs Stunden später ließen sie uns in Leipzig raus und wir setzten unseren Weg nach Kiel fort, ohne einmal mehr als fünf Minuten warten zu müssen. Selbst während unserer Pause wurden wir von einer Familie gestört, die uns fragte, wo wir denn hinwollen. Am Ende des Tages haben uns ein paar Leute trotz 200km Umweg extra nach Kiel gefahren und dort mit uns die ganze Nacht gefeiert.

Es war der erste Tag meiner langen Geschichte mit dem Reisen per Anhalter. Unterwegs kann alles passieren, ganz besonders großartige Erfahrungen und zufällige, lustige Begegnungen. Ich kann mir nicht vorstellen, wie meine letzten fünf Jahre ohne Trampen gewesen wären. Ich gewann Geduld, ich lernte es, Fehler und falsche Entscheidungen zu akzeptieren, auf meinen Bauch zu hören und genügsam zu sein.

Und nicht zuletzt habe ich, als ich Grenzen einfach so passierte und überall willkommen geheißen wurde, herausgefunden, wie privilegiert ich eigentlich bin. Während dem Tramprennen 2015 trafen wir auf dem Weg nach Albanien unzählige Gruppen, die entlang der Bahnschienen nach Norden liefen, während unsere netten Fahrer in ihren gut klimatisierten Fahrzeugen furchtbare rassistische Kommentare machten.

Die Welt gehört dir, wenn du trampst, aber das nur als weißer Europäer bzw. Westlicher.

Ok, um ehrlich zu sein bin ich nicht so wirklich weiß, aber es ist ein Fakt, dass Menschen aus anderen Ländern mir gegenüber deutlich gastfreundlicher sind, als sie es noch eine Generation früher mit meinem Vater waren oder als sie es jetzt mit den nach Europa fliehenden Menschen sind.

Jetzt bleibt die Frage: Willst du deine Privilegien nutzen, um fernzusehen? Oder willst du deine Grenzen ausprobieren und die Welt kennenlernen? Es gibt keinen Grund sich schuldig oder schlecht dafür zu fühlen, mach dich auf den Weg, auf geht’s!