Unterwegs auf dem Balkan
von Ole
Was sollte ich von so einem Tag halten? Ich wusste es am Abend selbst nicht.
Still sitze ich in Vlora. Zweitgrößte Stadt Albaniens, kaum zwei Stunden da, total entspannt, mit einem großen Problem. Aber der Reihe nach.
Es ist ein schöner, sonniger Tag, es ist Tramptag beim Tramprennen. Vom etwas verträumten Küstenort Herceg Novi in Montenegro soll es in den als geradezu mondän beschriebenen Hafenort Vlora nach Albanien gehen. Unter den Menschen, die ich am Morgen noch sehe, scheinen die am besten informiert, die den Namen mal gegoogelt hatten. Mit Hilfe des Ortsregisters ganz hinten im Atlas finden wir planquadratgenau die Lage unseres Ziels heraus.
Die ersten Kilometer aus Herceg Novi heraus sind Business-As-Usual, nach der kurzen Nacht wird getrampt wie im Schlaf. Pappe und Daumen prangen im Blickfeld der vorbeiziehenden Autofahrer. Eine wilde Mischung aus hochglänzend gewaschenen Protzkarren, rußenden LKW und altersschwachen Rostlauben zischt vorbei, bis wir endlich das Rennen aufnehmen können. Wenig später legt eine Fähre an der Bucht von Kotor ab. Ganz gemächlich setzt der Kahn über, leicht salzige Seeluft umströmt während der kurzen Fahrt meine Nase auf dem Oberdeck. Entspannung macht sich breit, und auch die Weiterfahrt ist längst gesichert. Ein netter Mittvierziger muss einige Kilometer in den Süden, Richtung Grenze. Das Ziel passt. Das Schiff legt an, wir steigen ein.
Lange dauert die Fahrt im klimatisierten Kombi nicht. Unser Begleiter muss abbiegen von der Hauptstraße, die Wege trennen sich. Knallend schlägt eine Welle heißer Luft beim Aussteigen in den heruntergekühlten Wagen. Der Blick fällt auf eine Kreuzung im Nirgendwo. Zwar stehen hinter jeder der vier Ecken kleine Häuser, doch schon Wegweiser scheinen nicht zur Grundausstattung dieser Gegend zu gehören. Meinen Rucksack stelle ich neben ein ausladendes Tor. Die repräsentative Wirkung der Pforte kommt nicht wirklich zur Geltung, eine schief umherhängende Hälfte schleift auf dem Asphalt. Nur dann und wann ergänzen fahrende Autos zur brütend heiße Szenerie. Auch nachdem wir mit geschickten Herleitungen unseren Ort auf der Karte im Atlas bestimmen konnten, fühle ich mich nicht gut an diesem Ort, an dem Wagen aus der Vorfahrtstraße sich langsam in die Kreuzung hineintasten, während sie am Vorfahrt-achten-Schild mit Vollgas vorbeibrettern. Radarfallen müssen die Autofahrer nicht fürchten, denn Kennzeichen haben die Karren hier ebenso wenig wie andernorts Fahrräder.
Ich fühle mich von vorbeigehenden Menschen misstrauisch beäugt. Sie schauen drein, als hätten sie noch nie so etwas wie Tramper gesehen und würden mir auch nicht viel mehr Vertrauen entgegenbringen wollen, als ich es gerade ihnen gebe. Ich möchte nur noch weg. Jedes aus der Ferne nahende Autobrummen lässt mich träumen von einem Lift. Wohin? Wer? Egal. Nur nicht der Fahrer des Wagens, der beim Rangieren in seiner hausbreiten Ausfahrt ganz langsam meinen Rucksack überfährt. Der laut aufheulende Motor beim wortlosen Verpissen ist für mich das letzte Signal: Wir schleppen unser Zeug einige Minuten die leichte Steigung hinauf bis weit hinter den Ortsausgang, umgeben vom fruchtigen Geruch des ausgelaufenen Aprikosenshampoos, das mit dem zerdrückten Ladegerät eine Melange besonderer Art eingeht.
Schließlich stoppt ein Mercedes aus dem Kosovo. Wortkarg steigen wir ein, wortkarg kurven wir über die schreibtischbreite Schotterpiste, die der Atlas als Nationalstraße klassifiziert. Richtung Albanien. Der Motor arbeitet sich mühsam kreischend an den Steigungen ab, die Lenkung tut ihre Pflicht bei schnellen Ausweichmanövern vor dem Gegenverkehr. Die Grenze ist kein Hindernis, unser Fahrer kennt jeden Beamten bestens, nach kurzer Zeit öffnet sich der Schlagbaum. Wir sind in Albanien. Ich fühle mich mulmig. Sehr mulmig. Aber ich will auch ans Ziel, nach Vlore.
Die Hauptstraße, an der wir herausgelassen werden, ist gut befahren. Lange müssen wir nicht warten, schon hält ein Kieslaster. Wir klettern die Stufen zum Führerhäuschen hoch, öffnen die klapprige Tür, zeigen unseren Atlas, flink huschen die Finger über die Karte. Der Lastzug steht mitten auf der Fahrbahn, die Autos ziehen links über die Gegenseite und rechts über unseren Parkplatz vorbei. Der Fahrer kann kein Wort Englisch, Deutsch sowieso nicht, aber die Karte genügt. Der Daumen geht hoch, wir wuchten das Gepäck in die Kabine und machen es uns gemütlich, während der Motor das tonnenschwere Gespann in Bewegung setzt.
Entspannung macht sich wieder breit. Ich trohne über der Straße, der Fahrtwind erfrischt. Wir wissen nicht, wo es hingeht, aber es gibt wieder Schilder. Was wir sehen, passt zum Weg. Links und rechts der Route wechseln sich Bauruinen ab mit achtlos entsorgten Autowracks und fabelhaften Ansichten.
Erst, als der LKW langsam wieder herunterbremst, steigt meine Anspannung wieder. Der Puls geht hoch, als ich sehe, dass wir mitten auf einer Schnellstraße stehen, die im autobahnähnlichen Tempo befahren wird. Doch es hilft nichts, wir können uns mit dem Fahrer ja schlecht verständigen. Auf der Beifahrerseite hüpfe ich hinunter, hinter eine Leitplanke, die als Zwischenstation für das heruntergewuchtete Gepäck dient. Eine geradezu aberwitzig schmale Haltebucht ist zur Station für den nächsten Lift auserkoren. Und das Angebot nimmt an – ein 12 Meter langer Bus, der die Bucht ignoriert und kurzerhand auf der Fahrbahn hält. Drin sitzen Fahrgäste, es ist ein ganz gewöhnlicher Linienbus. Von ganz hinten klettert ein junger Mann, vielleicht Anfang 20, nach vorn und dolmetscht. Der Busfahrer will uns gratis mitnehmen. Bis in die nächste Stadt. Das ist nicht ganz auf dem Weg, aber… wir steigen ein. Unser dolmetschender Weggenosse ist Student. Nach dem Abschluss will er ins Ausland. Viel erzählt er uns über Lebenschancen und Risiken in seiner Heimat, lange erzählen wir über Lebenschancen und Risiken in Deutschland. Nach der Ankunft des Busses will er uns noch eben den Weg zum Trampspot für die letzten 100 Kilometer nach Vlora zeigen. Doch, so meint er, sei das eigentlich ein sinnloses Unterfangen. Es gebe keinen guten Ort zum Halten. Besser sei es doch, wir würden einfach weiter Bus fahren. Dass wir beim Tramprennen für den Transport kein Geld ausgeben sollen, wie wir schon vorher erzählten – hmm, das sei doch kein Problem. Er werde die Bustickets zahlen!
Mühsam bringen wir ihn noch auf dem Weg zum Bankautomaten von seinem Plan ab. Aber die Busidee hat sich ins Hirn gepackt. Die Karte im Atlas ist hier völlig unbrauchbar, die Straßen wirken chaotisch, zuviel ist schon passiert. Wir werden zum Busbahnhof Richtung Vlore gebracht, zahlen 12 Euro für die Tickets auf den kleinen Wechselteller und sitzen 10 Minuten später in einem Kleinsprinter. Die Sonne geht unter, es wird dunkler, die Uhr zeigt bald 8. Zum ersten Mal kann ich an diesem Tag etwas entspannen, mein Körper schafft es in den Sekundenschlaf. Gefühlte vier Stunden, tatsächlich kaum 90 Minuten, später, steige ich aus. Vlora.
Es ist nur ein kurzer Fußmarsch zu unserem Treffpunkt, einem nun in Dunkeln liegenden Denkmal. An seinem Rand sitzen schon eine Handvoll anderer Tramper. Drei Teams schafften es vor uns hierher, die anderen spuken noch durch das abendliche Albanien. So versammelt erzählen wir uns von den Ereignissen des Tages, alle hier haben viel zu sagen. Der Mund wird trocken, ich brauche neues Wasser. Doch – ich finde mein Portemonnaie nicht. Gar nichts. Ich muss es im Bus liegenlassen haben.
Meine Gelassenheit verwundert mich. Albanien, ich bin da ohne Geld, ohne Karten, ohne Personalausweis, ohne Sprachkenntnisse und hänge gut gelaunt am noch vom Tag gut aufgeheizten Denkmal. Unfassbar.
Epilog: Von den anderen Trampern kann ich mir etwas Geld leihen. Am nächsten Tag komme ich mit einem jungen Albaner über eine komische Mischung aus Englisch, Spanisch und Deutsch ins Gespräch. Er will mir helfen. Wir fahren durch halb Vlora, faszinierend ist die Vielfalt der Bushaltestellen, an jeder Station steigt er aus und fragt, ob jemand mein Portemonnaie gefunden hätte. Ich wundere mich derweil, wie der Wagen zu einem – amerikanischen Kennzeichen kommt.
Das Portemonnaie tauchte nie wieder auf. Mit der Karte, die drin steckte und die ich erst mit etwas Verzögerungen sperren konnte, wurde kein Unsinn angestellt.